Leidensgenossen gesucht

Kolumne über das Unwesen des unprofessionellen Redens

Ich fürchte, daß ich an einer unheilbaren Berufskrankheit leide. Wenn ich hier darüber spreche, dann in der Hoffnung, daß dieses Bekenntnis meine Genesung begünstigt. Denn kein Arzt, kein Heilpraktiker hat mir helfen können. Ich leide unter Redenallergie oder, um den Fachausdruck zu gebrauchen, unter Palaverphobie. Wenn ein Mensch, meist männlichen Geschlechts, zu einem Rednerpult schreitet, überkommen mich Schweißausbrüche. Wenn er einen Stapel Blätter in Händen hält, raubt mir eine Enge in der Brust fast den Atem. Und wenn der Redner zu sprechen anhebt mit „Ich möchte begrüßen“ oder „Ich möchte danken“ und wenn er diese Phrase fünf bis zehn Minuten lang gebraucht hat, gerate ich schier in Panik. „Mein Gott!“, denke ich. „ Er möchte begrüßen, und spricht darüber schon seit zehn Minuten! Wie lange wird er noch reden, bis er mit dem Begrüßen endlich beginnt?“ Besonders schlimm wird es, wenn der Redner verspricht, sich kurzfassen zu wollen. Meine Hände zittern, und nur unter Aufbietung meiner ganzen Willenskraft kann ich verhindern zu klatschen, um nicht den Unmut der Anwesenden auf mich zu ziehen.
Besonders stark reagiert mein Körper, wenn der Betreffende ankündigt, zum Schluss kommen zu wollen. Mein Blutdruck steigt, ein Schwindel bemächtigt sich meiner. „Schluss, Ende, aus!“, möchte ich brüllen. „Mach doch einfach Schluss statt nur darüber zu reden!“ Doch zum Glück versagt meine Stimme, meine Zunge fühlt sich dick an wie ein Kloß und um mich her wird Nacht, bis der Applaus, der erlösende, mich in die Gegenwart zurückholt.
Leidet unter Ihnen, liebe Leser, jemand unter ähnlichen Symptomen? Wir könnten eine Selbsthilfegruppe gründen.
Auf alle Fälle wünsche ich Ihnen viele kurze, humorvolle und erfrischende Reden. Mit den besten Grüßen,

Ihr Martin Bernhard

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